9
Nov
2006

Was wäre wenn

Besonders auf Reisen kann ich es nicht lassen, mich ständig in fremde Lebensumgebungen hinein zu denken. Fahre ich durch eine Wellblechsiedlung am Rand von Mexico City oder durch die Upper East Side in Manhattan: Egal, sofort stelle ich mir vor, wie es wohl ist, dort zu leben.
Natürlich habe ich in Wahrheit keine Ahnung. Trotzdem phantasiere ich mir einen Tagesablauf zusammen. Verarbeite die minimalen Einblicke, die ich erhasche: Die Satellitenantenne auf dem Dach der wackeligen Hütte, der alte Fernseher neben der Hängematte im Freien. Der Concierge in Uniform, die eingezäunte Privatschule. Was würde ich besitzen, was würde mir fehlen? Wie würde es sich anfühlen, kein anderes Leben zu kennen?

Auch zu Hause lässt es mich nicht los. Tausende Lebensentwürfe habe ich schon überlegt und wieder verworfen. Millionen Alternativen im Kopf durchgespielt. Es waren immer nur Sequenzen, wie aus dem Daumenkino.
Manchmal überfordert mich die Freiheit, die ich habe. Dann bin ich traurig, weil ich nur ein Leben habe und nur einen einzigen Weg durch gehen kann. Ich versuche, mich nicht auf die unendlich vielen Weggabelungen vor mir zu konzentrieren, sondern auf den Pfad, den ich durch meine bisherigen Entscheidungen angelegt habe.

Er hätte schöner sein können, verschlungener, mutiger.
Er hätte aber auch viel viel langweiliger sein können.
cappuccina (Gast) - 9. Nov, 11:52

... er hätte aber auch dramatisch oder hoffnungslos sein können!
Deshalb find´ ich´s immer gut für mich, mich in Bescheidenheit zu üben, weil´s eigentlich meistens eh gut ist, so wie es ist.
Und die "was wäre wenn...."- Gedanken sind eh nur leere Kilometer !

PeZwo - 9. Nov, 12:22

manchmal schreibst du ausgesprochen schöne und niveauvolle Beiträge...

workingmama - 9. Nov, 23:40

na das nenn ich ein zweischneidiges kompliment :-)
PeZwo - 10. Nov, 08:25

*lach* uups, mir fällt erst jetzt die theoretisch mögliche Doppeldeutigkeit auf.

Nein, ist einschneidig. Der Umkehrschluß, dass dafür die übrigen Beiträge ..... ...... ....... sind, war nicht beabsichtigt*g*
caliente_in_berlin - 9. Nov, 13:37

Ganz toller Beitrag. Mir geht es auch oft so...aber nicht nur mit Lebensorten, auch mit Beruf usw. Mich interessieren so viele unterschiedlichen Sachen, es ist gemein, dass man (normalerweise) nur ein Studium auswählen kann und sich damit in eine Richtung festlegt.
Aber ich stimme nicht 100% mit Cappuccina überein. Klar, ich mag keine Menschen, die immer nur "was wäre wenn" denken. Aber manchmal braucht man diese Vorstellung. Denn wenn sie wirklich stark ist, ist es der richtige Weg, der begangen werden will. Dann muss das "wenn" gelebt werden.

cappuccina - 9. Nov, 21:53

bin mit Dir voll d'accord..@caliente_in_berlin.

... vielleicht ist es auch schon mein "fortgeschrittenes" Alter, dass mich bescheidener, ruhiger werden läßt, oder auch die unbeschreiblichen/unvorstellbaren Lebensgeschichten/Schicksale meiner KlientInnen,... wer weiß?
workingmama - 9. Nov, 23:39

... und ich bewundere die, die calientes "wenn" zu leben wagen!
genauso aber auch die, die cappucinas art von bescheidenheit bewahren.
Allegra - 9. Nov, 16:24

...sehr schoen gesagt....aeh geschrieben...

ist's bei dir vielleicht auch so, wie bei mir: ....mal kommt mir mein lebensweg so eintoenig vor...gerade in dem moment, in dem ich ihn lebe....wenn ich diesen lebensabschnitt aber mit abstand....zum beispiel nach einem jahr noch mal revue passieren lasse, dann wunder ich mich doch, was da wieder alles los war und wie "verblendet" ich damals mit meiner sichtweise war und es viel....ja tausend mal mehr....haette geniessen sollen....

workingmama - 9. Nov, 23:31

ich denke,

ich weiß, was du meinst. aber "ich hätte es mehr genießen sollen" hat den beigeschmack von "ich hätte mich zufrieden geben sollen", und das ist wieder etwas, das ich nicht will. wahrscheinlich werden wir ewig hin- und hergerissen sein zwischen dem wunsch nach immer mehr und noch besserem, und dem wunsch, endlich tief im inneren zu wissen, dass wir das schon erlangt haben. die beiden schließen einander aus, fürchte ich.

du und ich sind zwar nicht von der art mensch, die total im augenblick leben und aufgehen kann. wir sind aber auch nicht von der art mensch, die nie genug kriegt und erreichtes nicht zu schätzen weiß (der gedanke "ich hätte es genießen sollen" beweist es...). kann das sein?
cappuccina - 11. Nov, 10:20

Eure Gedanken bringen mich dazu, nochmals zu schreiben:
Würd´ doch gern "meine" erwähnte Bescheidenheit besser mit Zufriedenheit beschreiben:
Zufrieden bin ich mit dem, was ich in den letzten 20 Jahren- trotz nicht immer idealer, manchmal widriger, Bedingungen - erreicht habe, beruflich, wie privat, mit "der Ernte", die ich am Ende des Tages " immer wieder nach Hause tragen durfte.
Es ist gut so, wie es ist und war!
Allegra - 11. Nov, 19:29

@workingmama

ja, da hast du recht...und genau deshalb gibt's eben auch diese momente, wo man sich zufrieden zuruecklehnt und einfach nur denkt: "toll gelaufen!" und auf gelebte, tolle lebensabschnitte aufbauen kann...
aber die halten ja "zum glueck" auch nicht lange an und dann geht das gezweifele und das weiterkommen wollen wieder los...
...man muss in bewegung bleiben....ganz nach dem motto von francis picabia "der kopf ist rund, damit das denken die richtung wechseln kann".....so wichtig !!!
und die frage "haette ich...was waere wenn..." gibt zumindest dem zweifel raum, der dann wiederum zur treibenden kraft werden kann...

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